Maria Montessoris Sicht auf die Mathematik als ‘Unterrichtsfach’
Der Mathematische Geist und die Humanen Tendenzen
Die Pädagogik Maria Montessoris ist kein Konzept, das sie sich als Philosophin mit Hilfe der Imaginationskraft ausgedacht hätte. Es ist eher eine Bildbeschreibung. Denn ihr ganzes Leben lang kniete sie einer Biologin gleich mit der Lupe vor dem Kind und beobachtete es, um herauszufinden, wer es sei. Wie ein Maler, der an einem Fresko arbeitet, ging sie immer wieder auf Distanz, um auch das ganze Bild zu sehen.
In den Humanen Tendenzen beschreibt Maria Montessori die Prinzipien, nach denen das Kind sich die Welt, in der es lebt, zu eigen macht:
- Orientierung
- Erkundung und Erforschung
- Ordnung
- Imaginations – Vorstellungskraft
- Abstraktion ( Konzeptualisierung)
- Arbeit / Manipulation / Bewegung
- Wiederholung / Exaktheit / Perfektion
- Selbstkontrolle
- Kommunikation / Zugehörigkeit
- Generierung von Symbolen
Sie entdeckte auch eine zeitliche Logik, nach der die Humanen Tendenzen sich entwickeln und beschrieb diese in den “Sensitiven Phasen”. Diese beiden, die Humanen Tendenzen und die Sensitiven Phasen dienen dem Montessori-Pädagogen als Richtschnur. Denn ein Kind, das diese nicht oder nur teilweise leben kann, versäumt nicht nur gewisse Möglichkeiten, es versäumt sich selbst.
Der Mathematische Geist im Kontext der Pädagogik Maria Montessoris
Wenn wir uns ansehen, was Maria Montessori unter dem Begriff Mathematischer Geist zusammenfasst…
- messen
- exakt sein
- logisch denken
- Vergleiche anstellen / Gleichheiten und Unterschiede wahrnehmen
- klassifizieren / ordnen
- Muster erkennen
- Abstraktion / Imaginationskraft / Symbole
- aus Bekanntem etwas Neues erschaffen
- Kreativität
… sticht eine große Übereinstimmung mit obiger Liste ins Auge. Der Mathematische Geist erhebt sich gewissermaßen aus den Humanen Tendenzen als deren Zusammenfassung. Andersherum betrachtet: Der Mensch ist gewissermaßen personifizierter Mathematischer Geist.
So verwundert es nicht, dass so gut wie jeder andere Begriff ihrer Pädagogik einen unmittelbaren Bezug zum mathematischen Geist hat: auf diesen hinweist, oder mit ihm in die Welt:
- Abstraktionsvermögen
- Humane Tendenz
- Imaginationskraft
- Kosmische Erziehung
- Normalisierung und Deviation
- Sensible Phasen
- Sinnesmaterial
Bis hinein in die feinsten Verästelungen tragen praktisch alle didaktischen „Tools“ den mathematischen Geist in sich:
- Baum als Ordnungssystem
- Definitionsmaterial
- Vom Ganzen ins Detail
- Panorama
- Zeitleisten
- …
Der Mathematische Geist und das Sinnesmaterial
Immer öfter hören wir von Kindern, denen “Dyskalkulie” attestiert wird. Jedes Jahr erzählen neueste Statistiken dem erschrockenen Leser, dass der Anteil der Kinder, die einen Zugang zur Mathematik finden, erneut gesunken ist.
Ist er (der Leser) der Meinung, die Mathematik sei das Fach, in dem sich die Intelligenz der Kinder zeigt, folgert er, dass unsere Kinder immer “dümmer” werden. Wer jedoch Maria Montessori glaubt und die Mathematik nicht nur als ein Fach unter anderen sieht, sondern als Ort menschlicher Grundausbildung, muss noch drastischer formulieren: Immer weniger Kinder haben –wie es scheint– einen Zugang zu sich selbst.
Nach meiner persönlichen Erfahrung haben die meisten mathematischen Defizite ihre Wurzeln in defizitärer Wahrnehmung. Denn viele derer, denen die Mathematik ein Buch mit sieben Siegeln ist, finden einen Zugang, wenn wir sie (die Mathematik) nicht dem Verstand erklären, sondern den Sinnen. Wenn die SuS nicht zuerst versuchen, Zahlen zu verstehen, sondern ihre Schrift verbessern und Ordnung in ihre Aufzeichnungen bringen.
Für ihre Gedanken rund um den mathematischen Geist zitiert Maria Montessori den Philosophen Blaise Pascal. Dieser sah die Gefahr, dass wir nicht die Welt wahr-nehmen, so wie sie ist, sondern dass wir sie –ohne uns dessen bewusst zu sein– unseren Vorstellungen anpassen. Pascal forderte den Geometer deshalb auf, er solle seinen “feinsinnigen Geist” ausbilden:
“Bei dem feinsinnigen Geist (esprit de finesse) hingegen sind die Prinzipien im allgemeinen Gebrauch und vor aller Augen. Man braucht nicht den Kopf zu wenden und sich auch keinen Zwang anzutun. Es kommt nur darauf an, einen guten Blick zu haben, der aber muss wirklich gut sein. Denn die Prinzipien sind hier so hauchzart und so zahlreich, dass es fast unmöglich ist, einige von ihnen nicht zu übersehen. Nun führt aber die Nichtbeachtung eines Prinzips zum Irrtum…“(Blaise Pascal)
Indem sie genaues Beobachten zum Prinzip ihrer Suche nach dem Kind machte, vermied Maria Montessori die von Pascal beschriebene Gefahr der Subjektivität. Und da sie die Mathematik nicht als Wissens-Fach verstand, sondern als Übung im Menschsein, machte sie –ganz im Sinne von Pascal– die Ausbildung der Sinne zum Fundament ihrer Pädagogik.
„Zu diesem Zweck hat Maria Montessori für Kinder zwischen drei und vier Jahren das Sinnesmaterial entwickelt. Mit Hilfe des Materials lernen die Kinder Begriffe und Konzepte mit denen sie im Geist Synthesen schaffen und somit nach und nach Vorstellungen aufbauen können. Sie erlangen ein System nach dem sie ihre Wahrnehmungen ordnen und klassifizieren können (bspw. dick-dünn, groß-klein, etc.). Durch das Material werden Begriffe vom umgangssprachlichen Begriff abgegrenzt. Maria Montessori bezeichnete das Material auch als materialisierte Abstraktion oder grundlegendes mathematisches Material.“(Lea König)
Das Sinnesmaterial ist gewissermaßen der Boden,
auf dem der Mathematische Geist erst wachsen kann.
Der Mathematische Geist und die Kosmische Erziehung
Die Mathematik lehrt nicht nur die Sinne Genauigkeit, sondern auch den Geist. Sie lehrt, die Welt mehr zu lieben, als die eigene Meinung. Denn mit ihr (der Mathematik) müssen wir uns immer auch der Wahrheit stellen. Und damit lehrt sie auch, nicht nur in Grundfarben sehen, sondern in allen Farben. Lehrt, den Schnee nicht nur mit den Augen zu unterscheiden, sondern auch am Klang beim Gehen, am Gefühl beim Kneten und am Geruch. Jeden noch so feinen Unterschied können wir am Ende auch in Zahlen fassen. Nur wenn wir genau beobachten und wissen, was wir messen wollen, werden sie genau.
Doch die Welt „nur“ so zu erkennen, wie sie ist und sie zu respektieren, ist Maria Montessori nicht genug. Denn der Mensch hat etwas gut zu machen, im wahrsten Sinn des Wortes. Weil er –sich seiner und seiner enormen Fähigkeiten noch nicht bewusst– eingriff, muss er die Welt jetzt retten. Da er einem Riesen gleich durch diese Welt trampelte und sie aus dem Gleichgewicht brachte, muss er sie auch wieder richten.
Doch die Schuld des Menschen als Argument für diese Pflicht reicht nicht aus. Die Pflicht es wieder zu richten gründet vor allem auch darin, dass er von allen Lebewesen das einzige ist, des es wieder richten kann. Wer, wenn nicht der Mensch, hätte die Aufgabe, Lösungen zu finden für die großen Herausforderungen, vor denen die Welt steht. Weil er von allen Lebewesen am meisten beschenkt wurde, hat er unter allen die größte Aufgabe. Denn…
- er allein verfügt über Vorstellungskraft.
- er allein kann abstrahieren.
- er allein kann schöpferisch tätig sein.
Es reicht deshalb nicht, wenn der Mensch mit beiden Füßen auf dem Boden steht oder mit der Lupe kniet, um sie zu erforschen. Und es reicht auch nicht, wie ein Adler von oben auf die Welt zu blicken und zu sehen, wie alles mit allem verbunden ist. Nein! Um seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss sich der Geist des Menschen auch noch über die sinnliche Erfahrung selbst erheben:
„Des Lehrers Aufgabe ist es dabei,
das Kind von Eindrücken zu Vorstellungen hin zu führen.“[8]
Pascal wollte vermeiden, dass der Mensch sich sein eigenes Bild von der Welt macht. Denn er befürchtete, dass dieses nicht stimmen könnte. Und genau das, was Pascal vermeiden wollte, ist –meiner Meinung nach– das Ziel Maria Montessoris. Denn dem Menschen „nur“ einen geometrischen Geist zu attestieren, hieße ignorieren, dass er auch Schöpfer ist. Maria Montessori fordert deshalb, dass sich der Mensch mittels der Vorstellungskraft und mit Hilfe des Abstraktionsvermögens über die Welt und sogar über sich selbst erhebt. Er darf lernen, sich vorzustellen, was noch nicht existiert und was er deshalb –noch nicht– mit seinen Sinnen erfassen kann.
Wollten wir den Erwachsenen die Sinne öffnen, müssten wir diesen fast schon Gewalt antun. Viel leichter ist es, die grenzenlose Neugier der Kinder wach zu halten und zu nähren und darauf aufbauend ihre ‚Sprungkraft‘ zu trainieren. Beim Kind müssen wir deshalb ansetzen. In der Schule müssen wir Visionen einen Platz zum Wachsen geben. So wie die Geometrie die Sinne im Boden der Wirklichkeit erdet, trainiert die Arithmetik, trainiert der abstrakte Umgang mit den Zahlen auch den Geist.
Mit Hilfe des mathematischen Geistes breitet der Mensch die Schwingen aus,
erhebt sich über die Welt und alles was er sehen kann
und findet damit zu sich selbst.
Die “Seelen”-Triade und Persönlichkeitsaufbau
Maria Montessori sieht in einem ureigenen, freien Interesse des Kindes, die Voraussetzung für gelungenes Lernen. Die kosmische Erziehung ist deshalb ein einziges Fach mit vielen Richtungen. Bei allem was es kennenlernt kann sich das Kind dann selbst scheiden, in welche Richtung es mit neuen Augen losmarschiert: ob es ein Gedicht schreibt, ein Bild malt oder mit dem neuen Wissen im Gepäck seine Umgebung untersucht. Entsprechend schreibt Maria Montessori keine Lehrbücher, die sich mit den einzelnen Teilbereichen auseinander setzen und nach denen die Kinder / Lehrer die Inhalte des Fachs „abarbeiten“.
Nur bei den Themen Sprache und Mathematik macht sie eine Ausnahme. Denn hier baut das Kind die Kompetenzen auf, mittels derer es die ‘Welt’ erforschen und verstehen wird. Hier steht nicht der Kosmos im Mittelpunkt, sondern das Kind und seine Seele. Nicht die Inhalte geben die Struktur vor, sondern was das Kind in welchem Alter gemäß seiner Entwicklung aufnehmen kann.
Und damit diese drei (Grammatik, Geometrie, Arithmetik) nicht als gewöhnliche Lehrbücher missverstanden werden, setzt sie ihnen die Vorsilbe Psycho- voran:
- Psycho-Grammatik
- Psycho-Geometrie
- Psycho-Arithmetik
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Wenn das Tier „spricht“, reagiert es immer unmittelbar auf seine Umwelt. Es (= sein Gehirn) zieht Schlüsse aus der Gesamtheit dessen, was es wahrnimmt und beantwortet diese Wahrnehmung mit einer Aktion:
- Einschüchterung eines Angreifers
- Eine Warnung an andere vor dem gemeinsamen Feind
- Ein Schnurren und um Beine-streichen als Bitte um Futter.
Wenn jedoch das Kind sprechen lernt, geht es nicht primär darum, sich auszudrücken, sich mit anderen Menschen unterhalten zu können, oder einen Aufsatz zu verfassen. Der Sinn von Sprache geht viel, viel tiefer. Menschliche Sprache befähigt den Menschen, über Raum und Zeit hinweg Wissen auszutauschen. Um Wilhelm von Humbold zu paraphrasieren:
Sprechen lernen, –Sprache bewusst lernen– heißt denken lernen.
Sprache macht den Menschen erst zum Menschen. Und genauso ist es mit der Mathematik. Auch bei ihr sind wir versucht, die Disziplin mit dem Kind, Wissen mit Können zu verwechseln. Versucht, uns vorschnell mit der Erklärung zufrieden zu geben, die Mathematik sei eine Vorbereitung auf den späteren Beruf. Oder eine Lebenshilfe, denn schließlich lehrt sie uns, Kochrezepte zu skalieren und das Wechselgeld zu kontrollieren. Ja, mit ihrer Hilfe können wir sogar Sportstatistiken lesen.
Das alles stimmt natürlich, doch auch die Mathematik ist viel, viel mehr. Auch hier erhebt sich der Geist über das Fleisch. Vielen ist die Geometrie der mathematische Bereich, der ihnen ihnen die Mathematik am leichtesten zugänglich ist. Denn hier spielen die Augen eine tragende Rolle. Hier geht es um den esprit de finesse. Doch würden wir der Geometrie deswegen die Sorge um die Abstraktion und die Imaginationskraft absprechen, täten wir ihr Unrecht.
Trotzdem: wollen wir die Rollen beider –der Geometrie und der Arithmetik– voneinander abgrenzen, dann erdet die Geometrie den Geist mit beiden Füßen in den Sinnen, und die Arithmetik hebt ihm den Kopf über die Wolken.
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Ohne diese drei –Sprache, Geometrie und Arithmetik– wäre der Mensch, wäre das Kind vermutlich nicht in der Lage, die Zusammenhänge der Kosmischen Erziehung in ihrer ganzen Tiefe zu verstehen. Ein vorsichtiges „vermutlich“ deshalb, weil auch ein emotionales Verständnis Verständnis ist, vielleicht sogar ein tieferes als ein rein rationales, weil das Unbewusste wesentlich mehr Verbindungen sieht als das Bewusstsein.
Ganz sicher aber wäre das Kind ohne die Arithmetik und die in ihr liegende Kraft der Abstraktion nicht in der Lage, Lösungen zu finden, die der Welt helfen, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
Denn die Lösungen, nach denen wir suchen, verlangen, dass der Mensch unter Ausschöpfung seiner bewussten Fähigkeiten schöpferisch tätig wird.
Dass er entwirft und schafft, was er er noch nicht gesehen hat.