Dieser Aufsatz ist im Rahmen des Montessori-Diplomkurses entstanden. Er wurde noch einmal überarbeitet und ist Bestandteil der derzeit entstehenden Publikationen: „Kinder sind schon wieder anders“.
Einordnung
Eine Pädagogik, die das Kind an erste Stelle setzt und „nur“ dabei helfen will, dass dieses sich optimal entfaltet, hängt von der Qualität des zu Grunde liegendes Menschenbildes ab. Ein zentraler Begriff in der Bescheibung des Menschen ist bei Maria Montessori der „Mathematische Geist“. In gewisser Weise nimmt er den Platz ein, den die Begriffe Raum und Zeit für das Denken Immanuel Kants haben. Der „mathematische Geist“ beschreibt,, wie der Mensch die Welt, in der er lebt, sieht; wie er sich sich zu eigen macht; wie er denkt.
Der menschliche Geist verfügt nicht nur über die Fähgikeiten …
- zu messen
- exakt zu sein
- logisch zu denken
- Vergleiche anzustellen und Gleichheiten und Unterschiede wahrzunehmen
- zu klassifizieren
- Muster zu erkennen
- sich Dinge vorzustellen
- zu zählen
- zu rechnen
- aus Bekanntem etwas Neues zu erschaffen
- zur Kreativität“
…so, als wären es Optionen, wie „Skifahren lernen können, wenn er nur wolle“. Nein! Der Mensch ist gewissermaßen selbst Messen, Exaktheit und Logik in Person. Er muss zählen, muss klassifizieren… Täte er all dies nicht, dann versäumte er nicht nur gewisse Möglichkeiten. Er versäumt sich selbst. Er wäre einem Auto gleich, das nicht lenken kann. Der Mensch ohne mathematischen Geist wäre nicht komplett. Er wäre deviat. Womit eine menschengerechte Pädagogik zwangsläufig alles tun muss, damit dieser Geist auch wachsen und gedeihen könne.
Wie wichtig Maria Montessori diese Forderung nimmt, zeigt sich darin, wie fast jeder andere Begriff ihrer Pädagogik einen unmittelbaren Bezug zum mathematischen Geist aufweist: auf diesen hinweist, oder mit ihm in die Welt:
- Abstaktionsvermögen
- Humane Tendenz
- Imaginationskraft
- Kosmische Erziehung
- Normalisierung und Deviation
- Sensible Phasen
- Sinnesmaterial
Bis hinein in die feinsten Verästlegungen tragen alle didaktischen „Tools“ den mathematischen Geist in sich:
-
- Baum als Ordnungssystem
- Definitionsmaterial
- Vom Ganzen ins Detail
- Panorama
- Zeitleisten
- …
Der „Geometrische Geist“ bei Blaise Pascal
Maria Montessori bedient sich allen Wissens, das sie finden kann, um dem Kind beim wachsen zu helfen:
- Sie selbst ist Ärztin und alles was sie tut und denkt hat immer die Gesundheit des Kindes Im Blick. Und Heilung von den teilweise schwerwiegenden Verletzungen des Geistes und der Seele.
- Um zu verstehen, wie das Leben wächst, „unterhält“ sie sich nicht nur mit Biologen und Naturforschern, sondern sie ist selbst eine.
- Und obwohl sie alles andere ist, als eine Theoretikerin, die sich derin gefällt, kluge Konzepte auszudenken scheut sie doch nicht den Austausch mit den Philosophen. Sie kniet nicht nur vor dem, den sie studiert (dem Kind), sondern sie erhebt sich in die Lüfte, um ihn als ganzes und vor oben zu sehen.
Für ihre Gedanken rund um den mathematischen Geist zitiert sie den Philosophen Blaise Pascal. Dieser sah die Gefahr, dass wir nicht die Welt wahr-nehmen, so wie sie ist, sondern dass wir sie –ohne uns dessen bewusst zu sein– unseren Vorstellungen anpassen. Definitionen –so Pascal– sind kein Ausweg, denn auch sie können keine Gewissheit geben; sind sie doch in Worten aufgeschrieben und teilen damit das Schicksal aller anderen Worte: Jeder kann sie ohne sich dessen bewusst zu sein, mit subjektivem Inhalt füllen. Im Ringen um die Frage, wie wir der Gefahr der Subjektivität entgehen können, wandte sich Pascal an die Geometrie.
„Geben wir also diesem Teil des Geistes, der sich durch die Exaktheit aufbaut, einen Namen und nennen ihn „mathematischer Geist“. Der Begriff stammt von dem französichen Philosophen, Physiker und Mathematiker Pascal. Er behauptete, dass die Form des menschlichen Geistes eine mathematische sei; das Abschätzen der exakten Dinge führt zum Wissen und zum Fortschritt.“ (Montessori)
Derweil sich in sumpfiges Gelände begibt, wer versucht, auch noch den letzten Grund zu definieren…
„Pascal stellt die universale Gültigkeit der von Descartes vertretenen … „aprioristisch-deduktiven Wissenschaftsmethode“ in Frage.“
…verlegt Pascal diesen nicht außerhalb des Geistes, sondern in den Geist selbst. An die Stelle der ‚letzten’ Definitionen, stellt er den „Geometrischen Geist“.
„So wird denn alles, was die Geometrie aussagt, entweder durch das natürliche Erkenntnisvermögen oder durch die Beweise vollkommen richtig begründet“.
Pascal vollzieht damit den Übergang von Erkannten hin zu dem, der da erkennt:
„Bei dem einen sind die Prinzipien fasslich, aber dem allgemeinen Gebrauch fremd, so dass es Mühe bereitet, den Kopf nach jener Richtung zu wenden, da die Gewohnheit fehlt: Aber wenn man ihn auch nur ein wenig dorthin wendet, erkennt man die Prinzipien genau. Und man müsste einen ganz und gar verkehrten Geist haben, um falsche Vernunftsschlüsse … zu gewinnen.
Bei dem feinsinnigen Geist (Esprit de Finesse) hingegen sind die Prinzipiten im allgemeinen Gebrauch und vor aller Augen. Man braucht nicht den Kopf zu wenden und sich auch keinen Zwang anzutun. Es kommt nur darauf an einen guten Blick zu haben, der aber muss wirklich gut sein. Denn die Prinzipien sind hier so hauchzart und so zahlreicht, dass es fast unmöglich ist, einige von ihnen nicht zu übersehen. Nun führt aber die Nichtbeachtung eines Prinzips zum Irrtum…“
Die Fähigkeit, die den Menschen dazu befähigt, sich mit seinen Sinnen objektiv präzise der Wirklichkeit zu nähern und diese zu untersuchen, nennt Pascal den Geometrischen Geist. Und er fordert den Geometer auf, Feinsinnigkeit zu lernen.
Der „Mathematische Geist“ bei Maria Montessori
„Geben wir also dem Teil des Geistes, der sich durch die Exaktheit aufbaut, einen Namen
und nennen ihn „mathematischer Geist.“ (Maria Montessori)
Geometrie
Maria Montessori ordnet den Mathematische Geist unter die „Humanen Tendenzen“ sein. Entsprechend wird er „…vorrangig in den ersten sechs Lebensjahren grundgelegt.“
Schon das kleine Kind stellt bei allem, was es sieht, die penetrante Frage: Warum? Noch verlässt es sich auf die Antworten der Eltern. Doch schon bald wird es versuchen, selbst Ordnung in die Welt zu bringen. Das, was jedes Lebewesen unbewusst tun muss, um zu überleben –Muster erkennen– definiert dann auch den Menschen als bewusstes Lebewesen. Es ist die Natur des Menschen –den beiden Dimensionen Raum und Zeit folgend– einzuordnen, anzuordnen und zu vergleichen:
- Oben – unten, vorne – hinten, links – rechts,
- früher – später; gleichzeitig – nacheinander
In den meisten Fällen, hat zeitliche Reihenfolge ihren Grund. Und Ähnlichkeit ist oft ein Indiz für Verwandtschaft:
- Bäume und Sträucher, Adern und Nerven zeigen Muster im Kleinen und im Großen, an denen wir sie erkennen können.
- Stammbäume zeigen, welche Art aus welcher hervorging.
Praktisch allem können wir ein Muster zuordnen, in allem können wir Muster erkennen. Bereits bevor wir Krebszellen unter dem Mikroskop sehen, erzählen uns die Versorgungsstrukturen, ob die Zelle gesund sind oder krank. Mit Pascal fordert Maria Montessori den Geometer auf, Feinsinnigkeit zu lernen. Denn wenn der Mensch also mit einem Mathematischen Geist ausgestattet ist, ist er Geometer nicht nur von „Beruf“, sondern in seinem Wesen.
Für ihre Pädagogik heißt das, dass nicht nur der Geist (der Verstand) des Kindes beim Wachsen zu unterstützen sei, sondern auch die Sinne. Und wollen wir eine Reihenfolge aufstellen, dann kommt der esprit de finesse vor dem spritus mathematicus. Denn wer nicht richtig sehen kann, kann auch nichts ordnen, messen, vergleichen …..
Die Mathematik als Disziplin lehrt den Geist Genauigkeit. Sie lehrt die Welt mehr zu lieben als die eigene Meinung. Und damit lehrt sie auch, nicht nur in Grundfarben sehen, sondern in allen Farben. Lehrt, den Schnee nicht nur mit den Augen zu unterscheiden, sondern auch am Klang beim Gehen, am Gefühl beim Kneten und am Geruch. Und jeden noch so feinen Unterschied können wir am Ende auch in Zahlen fassen. Zahlen werden dann genau, wenn wir zuvor genau beobachten und wissen, was wir messen wollen.
„Zu diesem Zweck hat Maria Montessori für Kinder zwischen drei und vier Jahren das Sinnesmaterial entwickelt. Mit Hilfe des Materials lernen die Kinder Begriffe und Konzepte mit denen sie im Geist Synthesen schaffen und somit nach und nach Vorstellungen aufbauen können. Sie erlangen ein System nach dem sie ihre Wahrnehmungen ordnen und klassifizieren können (bspw. dick-dünn, groß-klein, etc.). Durch das Material werden Begriffe vom umgangssprachlichen Begriff abgegrenzt. Maria Montessori bezeichnete das Material auch als materialisierte Abstraktion oder grundlegendes mathematisches Material.“ (Lea König)
Arithmetik
Doch die Welt „nur“ so zu erkennen, wie sie ist und sie zu respektieren ist Maria Montessori nicht genug. Denn der Mensch hat etwas gut zu machen, im wahrsten Sinn des Wortes. Er muss die Welt retten, weil er –sich seiner und seiner enormen Fähigkeiten noch nicht bewusst– eingriff. Da er einem Riesen gleich durch diese Welt trampelte und sie aus dem Gleichgewicht brachte, muss er sie auch wieder richten.
Doch die Schuld des Menschen als Argument für diese Pflicht reicht nicht aus. Die Pflicht gründet vor allem auch darin, dass er von allen Lebewesen das einzige ist, der es wieder richten kann. Weil er von allen am meisten beschenkt wurde, hat er unter allen Lebewesen die größte Aufgabe. Wer, wenn nicht der Mensch, hätte die Aufgabe, Lösungen zu finden für die großen Herausforderungen, vor denen die Welt steht:
- Er allein verfügt über Vorstellungskraft.
- Er allein kann abstrahieren.
- Er allein kann schöpferisch tätig sein.
Es reicht deshalb nicht, wenn der Mensch mit beiden Füßen auf dem Boden steht oder mit der Lupe kniet, um sie zu erforschen. Und es reicht auch nicht, wie ein Adler von oben auf die Welt zu blicken und zu sehen, wie alles mit allem verbunden ist. Nein! Um seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss sich der Geist des Menschen auch noch über die sinnliche Erfahrung selbst erheben.
„Des Lehrers Aufgabe ist es dabei, das Kind von Eindrücken zu Vorstellungen hin zu führen.“
Abstraktion und Vorstellungskraft
Pascal wollte vermeiden, dass der Mensch sich sein eigenes Bild von der Welt macht, weil er befürchtet, dass dieses nicht stimmen könnte. Und genau das, was Pascal vermeiden wollte, ist das Ziel Maria Montessoris: der Mensch muss lernen, sich mittels der Vorstellungskraft und mit Hilfe des Abstaktionsvermögen über die Welt und sogar über sich selbst zu erheben. Er muss lernen, sich vorzustellen, was noch nicht existiert und was er deshalb noch nicht mit seinen Sinnen erfassen kann.
Wollten wir dem Erwachsenen die Sinne zu öffnen, müssten wir ihm fast Gewalt antun. Viel leichter ist es, die grenzenlose Neugier der Kinder wach zu halten und zu nähren und darauf aubauend ihre ‚Sprungkraft‘ zu trainieren. Beim Kind müssen wir deshalb ansetzen. In der Schule müssen wir Visionen einen Platz zum Wachsen geben. So wie die Geometrie die Sinne im Boden der Wirklichkeit erdet, trainiert die Arithmetik, trainiert der abstrakte Umgang mit den Zahlen auch den Geist. Dem Menschen „nur“ einen geometrischen Geist zu attestieren hieße ignorieren, dass er auch Schöpfer ist.
Mit Hilfe des Mathematischen Geistes breitet der Mensch die Schwingen aus,
erhebt sich über diese Welt und alles was er sehen kann
und findet damit zu sich selbst.
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