Einleitung
Den Menschen unterscheidet vom Tier, dass er über dieses hinaus auch noch Bewusstsein besitzt. Mit seiner Hilfe kann er jeden einzelnen Aspekt des großen Ganzen, in dem er lebt und das er er-lebt, isoliert in den Blick nehmen. Sogar sich selbst. Und wer einen Punkt herausgreifen kann, der kann dasselbe mit einem zweiten tun. Und er kann beide –erneut mit Hilfe des Bewusstseins– in einen logischen Zusammenhang bringen.
Das Bewusstsein versetzt ihn in sogar die Lage, sich in eine dunkle Kammer zurück zu ziehen, und dort über das Kämpfen nachzudenken, ohne je angegriffen worden zu sein. Er erlaubt ihm, abseits der Praxis jeden einzelnen Aspekt der Welt philosophisch in Betracht zu ziehen. Diese Trennung von Wissen und Erleben ist die Basis dafür, dass wir sogar von den Fehlern, Gedanken und Erfahrungen anderer lernen können. Wer Bewusstsein hat, ist allen Lebewesen ohne Bewusstsein haushoch überlegen.
Diese Überlegenheit verführt den Bewussten nur allzu leicht dazu, den (falschen) Schluss zu ziehen, die menschliche Vernunft sei höher einzuschätzen, als die Logik der Natur. Doch wenn er das tut, dann übersieht er, dass die Natur nicht denkt und plant; dass sie nicht einer ist, sondern alle; dass, was immer sie auch tut, millionenfach erprobt ist.
Einordnung
Wie die meisten anderen zentralen Begriffe hat auch der der „Sensiblen Phasen“ einen Bezug zu einer ganzen Reihe von anderen zentralen Begriffen der Montessori-Pädagogik:
- Der Absorbierende Geist
- Arbeit
- Kind als Baumeister seiner selbst
- Beobachten
- Normalisierung / Deviations
- Peripherie und Zentrum
- Polarisation der Aufmerksamkeit / Flow
- Vorbereitete Umgebung
- …
Herkunft des Begriffes und Definition
Fast müssen wir Maria Montessori mehr den Naturforschern zuordnen, als den Pädagogen. Denn wie jene ist sie zuerst eine aufmerksame Beobachterin. Damit stellt sie sich nicht über die Kinder und sinnt einem Marionettenspieler gleich darüber nach, wie diese bestmöglich zu erziehen seien. Nein! Maria Montessori zeichnet vor allem eines aus: Demut! Sie macht sich unsichtbar und –fast möchte man sagen– sie kniet mit der Lupe in der Hand, um der Natur alles abzusehen. Es ist bezeichnend, wie sie sich ganz explizit mit den Forschungsergebnissen ihrer Naturforscherkollegen beschäftigt und diese zitiert.
Die Entdeckung der Sensitiven Phasen und den Begriff selbst verdankt sie dem holländischen Biologen Hugo de Vries: Dieser hatte beobachtet, dass sich eine bestimmte Raupenart,…
…„während ihrer ersten Lebenstage … nur von den zartesten Blättchen an den Enden der Zweige zu nähren vermag. Nun legt aber der Schmetterling seine Eier gerade an der entgegengesetzten Stelle, nämlich dort, wo der Ast aus dem Baumstamm hervorwächst, denn dieser Ort ist sicher und geschützt“.
De Vries widmet sich der Frage, wie die jungen Raupen es nun schaffen, ans Ende der Zweige zu gelangen. Er stellt fest, dass sie solange eine besondere Empfindlichkeit für Licht besitzen, bis sie in der Lage sind, auch andere Nahrung zu sich zu nehmen. (vgl. Kinder sind anders, S. 48.
Diese Erkenntnis wäre weitaus weniger bemerkenswert, wäre unsere Raupe ganz generell lichtempfindlich. De Vries aber fand heraus, dass die Raupe nur in der ersten Phase ihres Lebens licht-sensibel ist. Sobald sie sich auch auf andere Art ernähren kann, verliert sie diese Kompetenz. Oder sollen wir sagen: das Interesse?
Sensibilisiert für „sensitive Phasen“ stellt Maria Montessori fest, dass es solche auch für Menschen-Kinder gibt. Ein Beispiel, das gut hierher passt –auch wenn es nicht von Maria Montessori selbst berichtet wird– soll dieses kurz verdeutlichen:
Der Human-Wissenschaft fiel auf, dass es in einer Sprache zwei Laute gibt, die nur von denjenigen Menschen unterschieden werden können, die dort aufgewachsen sind. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigten, dass die Fähigkeit, diese beiden Laute zu unterscheiden, nur während eines Zeitfensters von ca. 6 Monaten im Alter von ca. 2 Jahren gelernt werden kann: das junge Kind muss exakt in diesem Alter wiederholt mit den beiden Lauten und dem entsprechenden Bedeutungsunterschied konfrontiert werden.
Die Sensitiven Phasen der ersten Entwicklungsstufe (E1)
„Wenn Maria Montessoris Lehre von den sensitiven Perioden häufig als ihr wertvollster und orginellster Beitrag zur Pädagogik betrachtet wird, dann vor allem wegen der praktischen Ergebnisse. Ihr Studium der sensitiven Perioden im Aufbau der kindlichen Persönlichkeit lässt das ganze Erziehungsproblem in neuem Licht erscheinen und hat tatsächlich ein neues Kapitel der Erziehugngslehre eröffnet.“ (Standing 87)
So mancher mag versucht sein, zu vermuten, mit der Geburt sei die biologische Entwicklung des Kindes abgeschlossen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Kein anderes hochentwickeltes Lebewesen wird so „unfertig“ in die Welt entlassen. Manche bezeichnen den Menschen gar als eine Frühgeburt und geben dem ersten „Lebens“-Jahr den provokativen Namen: extra-uterinäre Embryonalphase. Maria Montessori selbst spricht vom „geistigem“ bzw. „sozialen“ Embryo noch bis zum Alter von 6 Jahren.
Berücksichtigen wir, dass das Gehirn des Jugendlichen in der Pubertät eine Phase der fast kompletten „Überarbeitung“ durchläuft, dann sind wir aufgefordert, sogar noch bis zum Abschluss der Pubertät nach sensitiven Phasen zu suchen.
Die frühe Geburt hat weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung des Kindes. Mit der Verlagerung eines Teils der Empryonalphase außerhalb des Uterus wird der aufrechte Gang zusammen mit der damit einhergehenden Befreiung der Hände für den Werkzeuggebrauch in die embryonale Entwicklung hineingekommen. ( Sensible Phase für Bewegung)
In den Jahren nach seiner Geburt lernt der Embryo (in konzentrischen Kreisen), wie die Welt, in der es lebt, funktioniert. Es lernt Gesellschaft, Werte und Kultur. Es lernt, wie „Menschsein“ funktioniert. Mit anderen Worten: Ordnung.
Auch diejenige Kompetenz, die den Menschen vor allen anderen auszeichnet, und die für die Entwicklung von Bewusstsein maßgeblich ist, –die Sprache– wird in die Entwicklung des Embryos hineingenommmen (Sensible Phase für Sprache). Dies verdient umso größere Beachtung, da alle Kompetenzen, die sich der „Embryo“ aneignet, bevor sein Bewusstsein (voll) entwickelt ist, unbewusst gelernt und damit tief im Unbewussten verankert werden. Sprache wird unbewusst gelernt und dient doch dazu, Bewusstsein aufzubauen. Ihr kommt damit eine Art Scharnierfunktion zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten zu.
Es ist kein Zufall, dass die drei genannten sensiblen Phasen in die Zeit fallen, in der das kleine Wesen die Welt aufsaugt (Absorbierender Geist), bevor es dann ausziehen wird, um in dieser seine Spuren zu hinterlassen. (hierzu später)
Das Kind als Baumeister seiner selbst
Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann.
Rainer Maria Rilke
Das kleine Kind braucht ohne Zweifel Eltern, die es nähren und am Leben halten, und mit deren Hilfe es solange wachsen darf, bis es selbst für sich sorgen kann. Es muss tausend Dinge lernen, nur eines nicht: wie (frühkindliche) Entwicklung funktioniert. Wenn hier einer lernen muss, dann seine Eltern. Denn der so stolze Mensch hat verlernt, der Natur zu vertrauen und dieser ihren Lauf zu lassen.
Maria Montessori beschreibt sehr anschaulich, wie ärgerlich Kinder reagieren können, wenn auch nur ein Regenschirm an falscher Stelle liegt, oder ein Mantel nicht auf den Schultern, sondern über dem Arm getragen wird.
„Das Vorhandensein einer Empfänglichkeitsperiode kann dann heftige Ausbrücke und eine Verzweiflichung bewirken, die wir für grundlos halten und daher Launen nennen. Launen sind der Ausdruck einer seelischen Störung, eines unbefriedigten Bedürfnisses, das einen Spannungszustand hevorruft. Sie stellen einen Versuch der Seele dar, das ihr Zukommende zu fordern und sich gegen einen ihr unerträglichen Zustand zur Wehr zu setzen.“ (Kinder sind anders, 54)
Wenn es um Entwicklung und Entfaltung geht, dann ist die wichtigste Rolle der Eltern, das Kind vor fremder Einflussnahme zu schützen, sogar vor ihrer eigenen. Sie müssen es davor bewahren, dass erwachsene Menschen sich anmaßen, einzugreifen, nur weil sie mit dem Lineal eine gerade Linie zwischen zwei Punkten ziehen können; zwischen dem Kind, das sie vor sich haben und der Zukunft, die sie sich für dieses ausgedacht.
Wollen Eltern und Erzieher tatsächlich aktiv etwas zur Entwicklung des Kindes beitragen, dann wäre es ihre Aufgabe, die Umgebung vorzubereiten. Sie müssen…
„die erforderlichen Mittel [für die innere Aufbauarbeit] bereit(zu)stellen, jene Mittel, die sich das Kind aus eigener Kraft nicht verschaffen kann.“ (Kinder sind anders, 56)
Im Bild gesprochen: Es ist ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es auf dem Weg zu den zarten Blattspitzen nicht an Licht mangelt und am Wegesrand keine Christbaumkugeln und Lammetta hängen, die die kleine Raupe ablenken könnten.
Die Eltern dürfen lernen, die Natur, ihr Kind ernst zu nehmen, wenn es sich beschwert aber auch, wenn es glücklich ist. Denn es weiß besser als jeder andere, was es gerade braucht:
„Das Kind übt diese Tätigkeiten nur darum aus, weil es dabei ein unaussprechliche Wonnegefühl empfindet.“ (Kinder sind anders, 53)
Ja!! Das junge Kind braucht keine Erzieher, sondern Ent-wicklungshelfer. Denn wie in einer Blume bereits alles angelegt ist, bevor die Blüte sich entfaltet, so ist auch im Kind alles angelegt, was es für seine Ent-wicklung braucht. Das einzige, was wir tun können, ist zu verhindern, dass diese Entfaltung allzusehr behindert wird.
Sensible Phase der 2. und 3. Entwicklungsstufe
Für die zweite und dritte Enwicklungsstufe will ich es damit bewenden lassen, Christiane Salvenmosser zu zitieren, die die wichtigsten Bedürfnisse zusammenfasst:
„Diese zweite große Phase der Entwicklung lässt nach Montessori drei Bedürfnisse im Sinne von Sensiblen Perioden erkennen:
- Das Bedürfnis des Kindes, aus seinem engen Bereich herauszukommen, seinen Aktionsbereich zu erweitern; Montessori weist hier besonders auf die Entwicklung der sozialen Beziehung hin.
- Den Übergang des kindlichen Geistes zur Abstraktion: Die Zeit von 6 bis 12 Jahren ist eine Art Sensibler Periode der Vorstellungskraft. In dieser Zeit wird der “Keim für die Wissenschaften” gelegt.
- Die Entstehung des moralischen Bewusstseins, das eng mit der Entwicklung des sozialen Bewusstseins verknüpft ist. Im Mittelpunkt steht eine innere Sensibilität: das Gewissen. Seinem “inneren Führer” zu gehorchen steht in engem Zusammenhang mit jener verantwortlichen Freiheit, die Maria Montessori mit dem Begriff “Meister seiner selbst” zu sein umschreibt. (Salvenmooser)
„Als Sensibilitäten des Jugendalters können 3 Bedürfnisse genannt werden:
- Das Bedürfnis, in dieser physiologisch bedingt labilen Phase Schutz und Geborgenheit zu finden.
- Gleichzeitig aber in den Stand versetzt zu werden, die Rolle des Menschen zu begreifen, die der/die Jugendliche in der Gesellschaft spielen wird.
- Das Selbstvertrauen zu stärken. Paul Oswald spricht von der “Sensibilität für Selbstwert und Menschenwürde”. (Salvenmoser)
(Abwesenheit von) Flow
Ein wichtiger Begriff in der Pädagogik Maria Montessoris ist die „Polarisation der Aufmerksamkeit“, besser bekannt unter dem Namen „Flow-Phänomen“.
Meine persönliche Interpretation ist, dass hier das Bewusstsein und das Unbewusste, dass hier Mensch und Tier nicht mehr streiten, sondern sich beide mit ein und derselben Sache beschäftigen. Und weil hier niemand mehr streitet: weil keiner der beiden dem anderen seinen Willen aufzwingt; weil niemand sich dem Willen des anderen verweigert, weil also gerade eben beide zu ihrem Recht kommen, ist „Polarisatiaon der Aufmerksamkeit“ das beste aller Zeichen, dass eben jetzt die aktuelle sensible Phase voll ausgelebt wird.
Ich schließe mich deshalb der Forderung Maria Montessoris an, dass jedes Kind das Recht hat, täglich Flow zu erleben. Und nur wenn das Kind oder der Jugendliche in seiner Arbeit versinkt und wir Flow beobachten können, können wir sicher sein, nicht zum Nachteil des Kindes eingegriffen zu haben.
„Auf Grund dieser Empfänglichkeit vermag das Kind einen außerordentlich intensiven Zusammenhang zwischen sich und der Außenwelt herzustellen, und von diesem Augenblick an wird ihm alles leicht, begeisternd, lebendig. Jede Anstrengung verwandelt sich in einen Machtzuwachs. Erst wenn während einer solchen Empfänglichkeitsperiode die entsprechende Fähigkeit errungen worden ist, senkt sich ein Schleier der Gleichgültigkeit und Müdigkeit über die Seele des Kindes.
Kaum ist jedoch eine dieser seelischen Leidenschaften erloschen, da entzünden sich auch schon andere Flammen, und so schreitet das Kind von einer Eroberung zur nächsten fort, in einem unablässigen Vibrieren der Lebenskraft, das wir alle kennen und als ‚Freude und Glück der Kindheit‘ bezeichnen.“ (Kinder sind anders, S. 49f.)
Ist die Tür zu, bleibt nur noch das Fenster
Für manche Fähigkeiten (zum Beispiel zwischen sehr ähnlichen Lauten unterscheiden zu können) ist mit dem Abschluss der entsprechenden sensitiven Phase darüber entschieden, ob eine Kompetenz erworben wurde oder nicht. Dies scheint mir gerade bei sehr frühen, im Unbewussten verankerten sensorischen Kompetenzen der Fall zu sein.
Bei anderen sensiblen Phasen, vor allem bei denen, die das Bewusstsein bereits voraussetzen bzw. dieses verfeinern, schließt sich ein großes Scheunentor. Doch ein mehr oder minder kleines Fenster bleibt weiterhin offen.
Selbstverständlich wird der Mensch auch dann erwachsen, wenn er die eine oder andere seiner sensitiven Perioden nicht nutzen konnte, aber mit jeder, die wir versäumen, verlieren wir eine Gelegenheit, uns auf einem bestimmten Gebiet zu vervollkommnen, und manchmal verlieren wir sie auf immer. (Standing, S. 88f.)
Den Absorbierenden Geist als grenzenlose Neugier und Offenheit zu beschreiben wäre nicht korrekt. Denn diese Beschreibung legt nahe, es handle sich um so etwas wie eine bewusste, charakterliche Haltung.
Meines Erachtens geht es auch hier um das Zusammenspiel zwischem dem Unbewussten und dem Bewusstsein. Das Unbewusste wird später eine Art Filterfunktion einnehmen: ich werde zum Beispiel nur dann von meinem Unbewussten geweckt werden, wenn es die Geräusche in der Wohnung nicht einordnen kann. Wenn es also nicht sicher ist, dass ich gefahrlos weiterschlafen kann. Ansonsten lässt es mich schlafen, weil gerade mein Gedächtnis geschrieben wird und dieser Prozess unterbrochen würde.
In der Phase, in der der absorbierende Geist aktiv ist, ist alles wichtig, jedes zu seiner Zeit. Zumal ja noch kein Bewusstsein als abschließende Instanz befragt werden kann.
Noch mehr: das Bewusstsein befindet sich gerade im Aufbau. Die Leistungsfähig-keit des Bewusstseins hängt auch von der Qualität der Daten ab, mit der es während seines Aufbaus „gefüttert“ wird. Sollte dieser Gedanke richtig sein, dann ist die Phase, in der der absorbierende Geist aktiv ist, auch prägend für die Aufnahmefähigkeit des Bewusstseins. Prägend für charakterliche Züge. Maßgeblich für die Effektivität aller späteren sensitiven Phasen.
Und damit hätte der Absorbierende Geist auch einen Einfluss darauf, wie leicht oder schwer es fällt, spätere sensible Phasen nachzuholen.
Um mit einem technischen Bild zu sprechen: Daten können zwar immer noch geladen werden: Aber es dauert halt länger, wenn 1 Terabyte mit 8 bit Datenleitungen geladen werden muss oder mit 64 bit.
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