Der Geistige Embryo

Kinder sind anders!

 

Anders als Erwachsene?
Anders, als wir uns das vorstellen?

 

Im Original heißt die Monographie Maria Montessoris „Das Geheimnis der Kindheit“. Es wundert nicht, dass sie ihr diesen Titel gab, hat sie doch ihr Leben damit verbracht, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Und wenn sie nicht Kind sagt, sondern Kindheit, bringt sie zum Ausdruck, dass dieses Geheimnis sich über Jahre hinzieht und jeden Augenblick neu gefunden werden will.
Doch der Titel der deutschen Übersetzung ist nicht minder gut: Kinder sind anders! „Anders“ ohne konkretisierenden, präzisierenden und damit auch verkürzenden Vergleich. Das verunsichert und öffnet hoffentlich den Geist.

Kein anderes Geschöpf hat Eltern, die nicht nur einen, sondern sogar zwei verschiedene Willen haben. Zwei Willen, von denen in den meisten Fällen derjenige bestimmt, der keine Ahnung davon hat, was das Kind jetzt braucht. Doch dazu gleich noch mehr. Maria Montessori fordert in ihrem Buch die Erwachsenen deshalb auf, endlich damit aufzuhören, sich als Gott aufzuspielen. Aufzuhören, ihre Kinder nach Ihrem Bild und Gleichnis formen zu wollen.

„Dort aber wartet ein anderes Wesen auf sie, ein Wesen von ungeheurer Macht, das sie sogleich packt und beinahe erdrückt – der Erwachsene“.  (Kinder sind anders, 44)

Und endlich damit anzufangen, die Welt in der die Kinder aufwachsen, so zu gestalten, dass diese sich entfalten können.

Heute, 70 Jahre später, ist viel passiert und der Verdienst Maria Montessoris daran ist alles andere als gering. Jedes Kind hat heute Kinderspielzeug, und vieles von dem, was wir den Babies in die Wiege legen oder über diese hängen ist inspiriert von ihrem Sinnesmaterial. Wie es scheint, haben wir gelernt, was sie uns sagen wollte und können uns anderen, heute wichtigeren Themen zuwenden!
Leider Nein! Wir sind noch lange nicht am Ziel. Denn es reicht nicht, wenn uns das Wort „kindgerecht“ leicht über die Lippen geht, und dass wir nur noch gutes Spielzeug kaufen. Es reicht auch nicht, ein paar Dinge anders zu machen als vor hundert Jahren. Und es ist erschreckend, wie lange es dauerte, bis wir dort stehen, wo wir es tun. Es gibt keinen Grund stolz zurückzublicken, denn wir haben gerade mal den ersten Schritt getan.

Nein! Wir müssen von dem, der da in unseren Armen liegt und bald krabbeln und dann laufen wird, auch ein adäquates Bild in unserem Kopf haben. Ein Bild jedoch, das „nur“ in allem besser wäre, als das vor 70 Jahren, ist nicht genug. Denn erstens wäre „besser“ bereits dann erreicht, wenn wir auch nur einen einzigen Schritt getan haben. Und zweitens geht es nicht nur um ein besseres Bild, sondern um das richtige. Denn scheinbar gute aber faktisch falsche Bilder sind wie ein falscher Kompass: Sie wiegen uns in Sicherheit, derweil sie uns in eine falsche Richtung schicken.

„So hat es der Erwachsene tatsächlich in der Hand, vom ersten Anbeginn an die göttliche Absicht zunichte zu machen, und der Mensch wird sich dann von Generation zu Generation in einer Art seelischer Verkrüppelung weiterentwickeln.“  (Kinder sind anders, 44)

 

Menschen sind anders

Es ist das Bewusstsein, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Doch offensichtlich ersetzen die bewussten Fähigkeiten diejenigen des Tieres nicht, sondern sie gesellen sich hinzu. Damit verfügt der Mensch über zweierlei „Betriebssysteme“: Maria Montessori stellt jedem der folgenden drei:

  • bewusster Wille
  • bewusstes Gedächtnis
  • bewusstes Lernen

…einen unbewussten Zwilling zur Seite:

  • Hormé
  • Engrammata  – Mneme
  • unbewusstes Lernen

Mit dem Instinkt ist es hingegen anders. Scheinbar lässt die Natur den Menschen vom Zwang der Instinkte frei.

„Von jedem Tier können wir erraten, was aus ihm werden wird, … Aber der Mensch ist zu allem fähig und in seiner anscheinenden Untätigkeit bereitet sich die wunderbare Überraschung der Individualität vor“. (Kinder sind anders, 43)

„Offenbar schlummert der Geist des Menschen in solcher Tiefe, dass er sich nicht auf dieselbe Weise kundgeben kann, wie der Instinkt des Tieres, der von Anfang an bereit ist, sich in bestimmten, in voraus festgelegten Handlungen zu äußern.“ (40)

Mit der Geburt, ist der Körper weitestgehend fertig, womit er auch den Status eines Embryos verliert. Doch mit dem Geist ist es ganz anders. Maria Montessori bezeichnet ihn auch weiterhin als Embryo. Denn im Gegensatz zu den Tieren sagt dem Menschen kein Instinkt, was „Leben“ meint. Er muss eigene Entscheidungen treffen. Während das Neugeborene also denken lernt, verleibt es sich die Welt, in die es scheinbar viel zu früh hinausgeboren wurde, ein.  (Absorbierender Geist).
Die Sprache der Eltern spielt hier eine wichtige Rolle. Denn, wenn zum Beispiel Eskimos eine Vielzahl an Worten für Schnee kennen, sieht sich das kleine Kind so lange aufgefordert, noch genauer hinzusehen, bis es sie alle unterscheiden kann.
Das Neugeborene lernt auch, was man so tut (Kultur, Werte) und was man lässt. ‚Lässt‘ nicht nur im Sinn von „Was man nicht unsanktioniert tun darf“, sondern ‚lässt‘ im Sinne von: „Das gibt es nicht.“ Diese Gesetze brauchen keine Sanktionen, denn sie verbieten sich von selbst.  Sie kommen nicht vor. Sie sind tabu.

Das Kind als Individuum

Fleischwerdung

Maria Montessori zeichnet uns das Neugeborene als bereits vom ersten Augenblick an mit individuellen Willen ausgestattet. Sie widerspricht damit der oft unbewussten aber deshalb nicht weniger irrigen Meinung vieler Erwachsenen ihrer Zeit, das Neugeborene würde in diesem Zustand über keinen Geist verfügen; der Meinung, die Eltern/Erwachsenen müssten dem Kind gewissermaßen „Geist“ einhauchen.

Trotzdem …„wird man doch annehmen dürfen, dass bereits im Säugling ein Spiel der Instinkte vor sich geht, das sich nicht bloß auf die Funktionen der Verdauung, sondern auch auf seelische Funktionen bezieht“ (38)

„Man könnte beinahe von einer Schöpfung sprechen, die dem einzelnen Individuum überlassen bleibt, und im voraus nicht zu bestimmen ist.“ …

„ das Tier gleicht dem in Serie hergestellten Gegenstand, und jedes  Individuum reproduziert so die gleichförmigen, für die ganze Art gemeinsamen Charakteristiken. Der Mensch hingegen entspricht dem in Handarbeit hergestellten Gegenstand: Jeder ist von allen anderne verschieden, in jedem wohnt ein ihm eigener schöpferischer Geist, deraus ihm ein Kunstwerk der natur macht. Aber die Natur ist langsam und langwierig. Da es sich hier nicht darum handelt, bloß einen festen Typus zu wiederholen, da vielmehr etwas grundlegend Neues geschaffen werden soll, bedarf es einens inneren Reifungsprozesses, bevor äußere Wirkungen erscheinen“ (41)

Um unmissverständlich klar zu machen, was sie meint, benutzt sie ein Bild, das allen ihren Landsleuten, und überhaupt allen Christen vertraut ist: Die Fleischwerdung:

„Diese Aufbauarbeit, in der sich die menschliche Persönlichkeit formt, stellt das verborgene Werk der Fleischwerdung dar. … Der Mensch gehört sich selbst. Sein eigener Wille ist es, der ihm zur Fleischwerdung verhelfen muss.“ (41)

So wie im Christuskind Gott Mensch wurde hilflos in einer Krippe liegend, vertrauensvoll sich in die Hände menschlicher Eltern legend, so wird generell in jedem Kind „Geist“ Mensch. Es muss zwar erst lernen seinen Körper und seine Zunge in Besitz zu nehmen. Doch so wie Maria und Josef überheblich gewesen wären, hätten sie versucht, dem Kind, das da in dieser Futterkrippe liegt, Gottheit einzuhauchen, so wäre es überheblich von den Eltern, würden sie sich anmaßen, dem kleinen Kind Menschsein einhauchen zu wollen.

„Erst nach langer Zeit, mach Monaten, einem ganzen Jahr oder mehr, wird dieser Körper sich aufrichten und gehen, wird nicht mehr etwas völlig Hilfloses sein, sondern der Körper eines kleinen Menschen; … Auf diese seelischen und körperlichen Tatsachen des Wachstums beziehen wir uns, wenn wir den Ausdruck Fleischwerdung gebrauchen. Fleischwerdung in der geheimnisvolle Vorgang, demzufolge in dem trägen Leib des Neugeborenen eine Energie erwachst, die dem Fleisch der Gliedmaßen, den Organgen der artikulierten Sprachen die Fähigkeit verleiht, gemäß seinem Willen zu handeln und so inkarniert sich der Mensch.“ (39)

„Der Menschengeist muss Fleisch werden, um den Weg ins Dasein zu erschließen und zu ermöglichen und dieser Vorgang der Fleischwerdung stellt das erste Kapitel im Leben des Kindes dar. Diese Fleischwerdung aber erfolgt nach psychischen Richtlinien und somit muss es im Kinde ein Seelenleben geben, das dem bloß motorischen Leben vorangeht und das früher da ist, als jeder wahrnehmbare Ausdruck und von diesem in keiner Weise anhängt.“ (42)

Instinkt vs. Persönliche Erfahrung

Ja, das Neugeborene trägt alles, was es braucht, bereits in sich. (—> Kind als Baumeister seiner selbst).

„So schafft die menschliche Persönlichkeit sich selbst, und aus dem Embryo, dem Kind, wird der Schöpfer des Menschen, der Vater des Menschen.“ (45)

Die Eltern können also nicht das Geringste hinzufügen. Und jeder Versuch dies zu tun, würde nichts anderes bewirken, als das Kind zu verletzten. (Normalisierung <—> Deviation). Trotzdem ist es nicht unbedingt nötig, anzunehmen, das Kind würde mit dem ersten Augenblick eigene Entscheidungen treffen. Ohnehin würde Abwägen und Entscheiden voraussetzen, dass das Kind über den Dingen steht. Und genau das ist ihm im wahrsten Sinnes des Wortes unmöglich. Es ist eingetaucht in diese neue kalte Welt. Seine (wachsende) Einzigartigkeit und Individualität ergibt sich vielmehr aus seiner (wachsenden) persönlichen, einzigartigen Erfahrung. Indem der geistige Embryo bereits in genau die Welt hinaus-geboren wird, in der er leben wird, wird ihm diese Welt gewissermaßen ein-geboren. Sie wird Teil seines Bauplans.

Es ist völlig ausreichend, wenn wir in dieser ersten Lebenszeit „Hormé“ am Werk sehen: diesen natürlichen Willen, der das Neugeborene drängt, sich seine Welt einzuverleiben und in vollen Zügen auszutrinken.

„Es kommt zum einem Austausch zwischen dem Individuum, besser gesagt dem geistigen Embryo, und der Umwelt, und in diesem Austausch formt und vervollkommnet sich das Individuum. Diese erste aufbauende Tätigkeit entspricht der Funktion jenes Bläschens, das im leiblichen Embryo zuerst das Herz vertritt, die Entwicklung und Ernährung aller Körperteile des Embryos sicherstellt und dabei die erfolgderlichen Nährstoffe den Blutgefäßen der Mutter entnimmt. 

Auch die seelische Individualität entwickelt sich durch die Arbeit eines solchen Motors, der die Beziehung zur Umwelt aufrechterhält. Alle Anstrengunggen des Kindes zielen darauf ab, seine Umwelt zu absorbieren, und aus diesen seinen Bemühungen erwächst die tiefgegründete Einheit seiner Persönlichkeit“. (45)

Dieses „sich-die-Welt-Einverleiben“ ist beides zugleich: aktiv und passiv:

  • Aktiv, weil es der Wille des Kindes ist (im Gegensatz zu dem der Eltern).
  • Passiv weil es sich der Welt anpasst und nicht umgekehrt.

Freier Wille im Kontext von unbewusst geprägter Kultur

Innerhalb eines relativ großen und durchaus vom jeweiligen Individuum abhängigen  Spielraumes an Unvollkommenheiten verschwendet „das Kind“ also keine Energie damit, ständig abzuwägen. Irgendwie – in gewisser Weise. Denn alle Offenheit, Flexibilität und Kompromissbereitschaft hat eine Grenze. Sollte sich die Welt nämlich als eine erweisen, die den Erwartungen zu sehr widerspricht, dann wehren sich beide: Der unbewusste Lebenswille (Hormé) und der bewusste Kindes-Wille.

Die kleine Julia (Schwester eines um mehrere Jahre älteren Bruders) wächst in einer gewaltschwangeren Welt auf. So früh und so oft es ihr möglich ist, flüchtet sie (willentlich) in die nahegelegene Bibliothek. Damit tauscht sie –ohne sich dessen bewusst zu sein– auch alles andere ein: Sie tauscht zum Beispiel ihre bildungsfernen Eltern gegen eine heimatliche Welt, die von Gedanken und von Wissen lebt. Und ohne es vielleicht zu ahnen distanziert sie sich damit auch von allen kulturellen Werten, die damit weniger Macht über sie ausüben, als üblich.
Als erwachsene Frau und Mutter lebt sie heute den Gegenentwurf zu der Familie, in der sie selbst aufwuchs. Sollte es einmal nötig sein, zieht sie die Grenzen zwischen sich und ihrem Kind mit ruhigen Worten. Denn sie fällt ihre Entscheidungen mit großer Freiheit und Unabhängigkeit.
Und es könnte sogar sein, dass Julias frühe Auflehnung sogar das Verhältnis von Ratio und Emotion, von Bewusstsein und dem Unbewussten beeinflusst hat. Denn es scheint mir kein Zufall zu sein, dass sie –in einem Beruf, der denen, die ihn ausüben, Extremes abverlangt–  in Situationen, in denen normalerweise die Emotionen die Führung an sich reißen, mehr als ihre Kollegen in der Lage ist, einen kühlen Kopf zu behalten.

Julias Bruder ertrug die Gewalt des Vaters und die stumme Hinnahme der Mutter weitaus besser. Im Gegensatz zu seiner Schwester weiß er sich heute oft nicht anders zu helfen, als es seinem Vater gleich zu tun und seinerseits die  eigenen Kinder hilflos anzuschreien.

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Ruka wuchs in einer muslimischen Familie auf, mit einem liebevollen, sanftmütigen Vater als Familienoberhaupt. Ihre Mutter trägt die ihr zugedachte kulturelle Rolle wie eine zweite Haut.
Heute ist sie eine starke junge Frau und Meisterin in zwei Kampfsportarten. Keiner kann ihr seinen Willen aufdrängen. Als die Zeit gekommen war, ließen ihre Eltern Ruka dann auch selbst entscheiden, ob sie das Kopftuch tragen wolle oder nicht. Hätte sie einen Herrscher über die Familie als Vater gehabt, der seine Frau und seine Kinder als Besitz betrachtet, hätte sich vermutlich anders entschieden.

Erziehung des Geistigen Embryos

Die Eltern und mit ihnen die Erzieher können dem Kind nichts hinzufügen. So wie eine Blüte bereits komplett ist, bevor sie sich entfaltet, wächst auch der Geist des Kindes in seiner ganzen Komplexität, noch bevor er die Flügel ausbreitet und sich über seine Welt erhebt.

„Besser solltes es heißen: Baumeister des Menschen ist das Kind. Das Kind ist der Vater des Menschen.“  (46)

Aufgabe der Eltern und Erzieher ist es, zu wissen, wie Kindes-Entwicklung vonstatten geht; zu wissen, welche geistige Nahrung das kleine Kind zu welchem Zeitpunkt brauchen wird;  ihm diese Umgebung vorzubereiten.

„Die Verantwortung des Erwachsenen ist so groß, dass ihm daraus die Prlicht erwächst, mit aller wissenschaftlichen Grundlichkeit die seelischen Bedürfnisse des Kindes zu erforschen und ihm eine dementsprechende Umwelt zu bereiten.  (46)

„Erziehung …natürlich nicht im Sinne von Unterricht verstanden, sondern im Sinne einer Unterstützung der seelischen Entwicklung des Kindes“ (38)

„Das Fleisch gewordene Kind ist ein geistiger Embryo, der auf Kosten seiner Umwelt leben muss. so wie der physische Embryo die besonderer Umwelt des Mutterschoßes benötigt, braucht auch der geistige Embryo den Schutzu einer lebendigen, von Liebe durchwärtmen, an Nahrung reichen Umwelt, in der alles darauf eingerichtet ist, sein Wachstum zu fördern, und nichts hindernd im Wege steht“.  (44)

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