Der Mensch als Mathematisches Wesen

Der Mathematische Geist in der Montessori Pädagogik

So sehr Maria Montessori an das Kind glaubt und daran, dass dessen „Natur“ besser als jede von Menschen ausgedachte Pädagogik weiß, was es zum Wachsen braucht, so sehr glaubt sie an eine sinnvolle Welt und daran, dass der Mensch sie wieder richten kann.

Aurora (5. Klasse) nahm begeistert an dem Werkstatt-Kurs „Forscherprojekt“ teil. Einmal in der Woche tasteten sie sich mit zehn andern Kindern Schritt für Schritt weiter hinaus ins Weltall. Auf dieser Reise lernte sie die Schnittstellen zwischen der Mathematik, der Astronomie, Physik und Chemie kennen. Die Kinder begleiteten Eratosthenes, der vor mehr als 1.200 Jahren mit Hilfe einfachster Geometrie herausfand, wie groß die Erde ist. Bei der Sonne angekommen hörten sie davon, wie diese aus Wasserstoff Helium und die nachfolgenden Elemente „herstellt“. Mit leuchtenden Augen saß Aurora immer in der ersten Reihe und saugte alles auf.
Da die Sonne Thema war, erzählte der Werkstattleiter den Kindern vom Lebenszyklus eines Sterns und dass die Sonne in ein paar Milliarden Jahren sterben müsse. Tief verletzt ging Aurora nach Hause und es war die letzte Stunde, in der sie an ihrem Lieblingskurs teilnahm.

Jahre später, im Zuge seiner Einführung in die Montessori-Pädagogik verstand der Lehrer seinen Fehler: In der Entwicklungsstufe 2 (6 —12 Jahre) lernen die Kinder die Welt als eine einzige und wunderbar Gefügte kennen. Das ist auch der Grund, warum es in der E2 nur ein einziges Fach gibt: Die kosmische Erziehung. Nach der Darbietung zum Thema „Aggregatzustände des Wassers“ hat das Kind die freie Wahl, in jede Richtung loszuziehen: Es kann …

  • ein Gedicht schreiben
  • den Versuch wiederholen
  • ein Bild malen
  • ein Lied komponieren
  • ein wissenschaftliches Buch ansehen und untersuchen, ob es noch andere Stoffe gibt, die ein ähnliches Verhalten zeigen.

Dass nicht alles in der Welt in Ordnung ist, ist in den ersten Jahren nur dann ein Thema, wenn die Kinder selbst darüber sprechen wollen.

Wenn Maria also Einteilung des Unterrichts in „Fächer“ ablehnt, wundert es auch nicht, dass sie keine Schulbücher geschrieben, sondern hunderte von Darbietungen entwickelt hat. Nur bei zwei Fächern macht sie drei Ausnahmen:

  • Psycho-Grammatik
  • Psycho-Arithmetik
  • Psycho-Geometrie

Die Vorsilbe Psycho- signalisiert, dass das Kind selbst —seine „Seele“— Thema ist. Maria geht also nicht von einem Lehrplan aus und denkt darüber nach, wie sie diesen dem Kind am besten vermittelt könne. Sie stellt statt dessen das Kind in den Mittelpunkt und fragt, was dieses braucht und wie sie ihm beim Wachsen helfen kann.
Ein Indiz dafür, dass keine weiteren Bücher mit der Vorsilbe „Psycho“ vorgesehen waren, mag sein, dass Sprache und Mathematik die einzigen „Fächer“ sind, deren Spuren sich auch in der Liste der Humanen Tendenzen wiederfinden. Wir können diese als Eigenschaften verstehen, die den Menschen definieren:

  • Orientierung
  • Erkundung und Erforschung
  • Ordnung
  • Imaginations – Vorstellungskraft
  • Abstraktion ( Konzeptualisierung)
  • Arbeit / Manipulation / Bewegung
  • Wiederholung / Exaktheit / Perfektion
  • Selbstkontrolle
  • Kommunikation / Zugehörigkeit
  • Generierung von Symbolen

Als innewohnende Neigungen (Antriebe, Bedürfnisse) begleiten die Humanen Tendenzen den Menschen über sein ganzes Leben hinweg und dominieren beim Kind zu unterschiedlichen Zeiten sogar den Entwicklungsprozess.
Und noch ein weiteres Indiz gibt es: So wie der Mensch von Natur aus sprechen kann, so ist er —nach der Überzeugung Maria Montessoris— auch ein mathematisches Wesen.

Der Mathematische Geist

Maria ließ sich in diesem Punkt von Blaise Pascal inspirieren, der sich —wie vor ihm Décartes— Gedanken darüber machte, wie wir (Selbst)-Täuschung vermeiden und zu absolut sicherem Wissen gelangen können. In der Definitionen —davon ist Pascal überzeugt— werden wir keine Sicherheit finden. Denn wir können jeden Begriff mit fast beliebigem Inhalt füllen.
Pascal findet im Menschen selbst festen Boden und nennt jenen letzten Grund den Geometrischen Geist. Dieser zeigt sich in der Fähigkeit (bewusst) genau hinzusehen. Pascal nennt ihn deshalb auch den esprit de finesse und fordert den Geometer (= Mathmatiker) auf, diesen auszubilden.
Inspiriert von Pascal attestiert Maria dem Menschen einen Mathematischen Geist:

„Geben wir also dem Teil des Geistes, der sich durch die Exaktheit aufbaut, einen Namen und nennen ihn „Mathematischer Geist.“

Der Mathematische Geist zeigt sich in der Fähigkeit…

  • zu messen
  • exakt zu sein
  • logisch zu denken
  • zu vergleichen / Gemeinsamkeiten und Unterschiede wahrzunehmen
  • zu klassifizieren
  • Muster zu erkennen
  • sich Dinge vorzustellen
  • zu zählen
  • zu rechnen
  • aus Bekanntem etwas Neues zu erschaffen
  • zur Kreativität

Maria folgert, nicht nur der Geometer müsse den esprit de finesse ausbilden, sondern ganz generell jedes Kind und sie entwickelt ihr Sinnesmaterial:

„Zu diesem Zweck hat Maria Montessori für Kinder zwischen drei und vier Jahren das Sinnesmaterial entwickelt. Mit Hilfe des Materials lernen die Kinder Begriffe und Konzepte mit denen sie im Geist Synthesen schaffen und somit nach und nach Vorstellungen aufbauen können. Sie erlangen ein System nach dem sie ihre Wahrnehmungen ordnen und klassifizieren können (bspw. dick-dünn, groß-klein, etc.). Durch das Material werden Begriffe vom umgangssprachlichen Begriff abgegrenzt. Maria Montessori bezeichnete das Material auch als materialisierte Abstraktion oder grundlegendes mathematisches Material.“ (Lea König)

Die drei Aufgaben der Mathematik

Wer hält nicht spontan die Mathematik für diejenige Disziplin, in der sich der Mensch maximal vom Tier unterscheidet. Maria belehrt uns eines anderen. Sie sagt uns, dass kein Geist (=Mensch) ohne die Sinne (= Tier) fliegen lernt.

Die Geometrie als sinnlichster Teil der Mathematik mag für die Erdung des menschlichen Geistes in der mit den Sinnen wahrgenommenen Realität stehen.

Die Arithmetik ist im Gegensatz zur Geometrie wesentlich abstrakter. Sie soll uns Symbol dafür sein, dass der mathematische Geist den Menschen —im Bild gesprochen— hoch über die Wolken hebt und ihn Zusammenhänge sehen lässt. Und wer Zusammenhänge sehen und Gemeinsamkeiten erkennen kann, hat es zwangsläufig mit abstrakten Konzepten zu tun. Wenn wir die Gemeinsamkeit hinter 20 verschiedenen Stühle „sehen“ können, und diesen einen gemeinsamen Begriff geben (Stuhl), dann ist dieses Wort „Stuhl“ zwangsläufig ein Abstraktum, das es genauso wenig gibt, wie die Zahl „2“.  Sicherlich: es gibt 2 Tomaten und 2 Stifte, aber die Zahl „2“ (ohne Einheit) gibt es genau genommen nicht. Sie ist abstrakt.

Wir können den Aspekt der Einordnung in das große Ganze, der Zusammenschau und der Abstraktion in jedem didaktischen Werkzeug der Montessori-Pädagogik wiederfinden. Pascal sucht sicheren Grund, damit der Geist des Menschen nicht Dinge sähe, die es gar nicht gibt. Für Maria ist genau diese Fähigkeit die dritte Frucht des Mathematischen Geistes. Denn sind wir erst einmal in der Lage, abstrakte Zusammenhänge zu sehen, ist es nur ein kleiner Schritt, uns auch Dinge vorzustellen, die es (noch) gar nicht gibt.
Dinge zu sehen, die es (noch) nicht gibt, ist für Maria nicht nur keine Gefahr, sondern genau dessen Gegenteil: Segen und die schönste Frucht, die die der mathematische Geist zu bieten hat. Denn sie lässt uns die Lösung für Probleme finden, die mit den Hilfsmitteln, die es bereits gibt, nicht zu lösen sind.

Indem Maria jedem Menschen einen Mathematischen Geist attestiert, gibt sie fast schon prophetisch den Aufschlag zu einer Diskussion, in der in jüngster Zeit immer wieder gefragt wird, ob die Mathematik Teil der Natur sei, oder vom menschlichen Geist erfunden. Denn je tiefer wir mit mit unserem Geist in die Natur eindringen, desto mehr wird offenbar, dass so gut wie jeder Aspekt der Wirklichkeit in mathematische Formeln gegossen werden kann.

Peter (10. Klasse) ist nicht der einzige, dessen Leistungen beim Lösen von Aufgaben sich verbesserte, nachdem er —auf wiederholten Rat seines Lehrers— anfing größer und schöner zu schreiben. Der Lehrer gab ihm außerdem noch eine Tabelle, die ihm half, dem Lösungsprozess zu folgen:

—Was sehe ich?
—Was weiß ich?
—Was suche ich?
—Mit welcher Formel kann ich arbeiten?
—Die letzte Spalte war für das Lösen der Gleichung vorgesehen. Damit er diese nicht immer vorne am Zeilenanfang zusammenschob, fügt der Lehrer in der Mitte auch schon das Gleichheitszeichen ein. Trotzdem machte Peter unerklärliche Fehler und irgendwie machten diesen den Eindruck, als habe er —aller Bemühung um äußere Struktur und Ordnung zum Trotz— die Orientierung verloren. Da drehte der Lehrer das Blatt versuchshalber quer, damit die Rechenspalte breiter würde. Und mit einem Schlag machte Peter keinen einzigen Fehler mehr.

Ludwig (6. Klasse) ist eine Künstlernatur. Alles in seinem Zimmer hat seinen Platz. Er spielt Klavier, malt gerne und die Garten-AG war das Highlight seiner Schulwoche. Mathe hingegen war sein schlimmstes Fach. Hier wusste er ein um’s and’re Mal einfach nicht, was er tun solle und er starrte minutenlang geradeaus.

Das Schriftbild in seinem Matheheft signalisierte, dass er eine Pflicht erfüllte: unübersichtlich, winzig klein, alle Buchstaben verschwammen zu einem einzigen Brei. Wer entziffern wollte, was Ludwig geschrieben hatte, musste sich wirklich anstrengen. Ludwig schrieb eindeutig nicht für sich selbst, sondern für die Lehrerin.
Da Ludwig offensichtlich ein sinnlicher Mensch war, machte sein Privatlehrer das Sehen und Schönheit der Schrift zum Ankerpunkt der Hilfestellung und innerhalb von zwei Monaten verbesserten sich seine Leistungen dramatisch. Nur nicht in den Tests.

Warum er dort regelmäßig um zwei Notenstufen schlechter abschnitt, als sein Leistungsstand noch am Vorabend erwarten ließ, klärte sich auf, als klar wurde, dass die Lehrerin ein großer Umweltfreund war und kein Papier verschwenden wollte. Wenn es also drauf an kam (im Test), war Ludwig gezwungen, wieder winzig klein zu schreiben. Außerdem hatte er nicht die Zeit, auch noch schön zu schreiben, denn die Lehrerin wollte die Kinder für die weiterführende Schule fit machen und setzte deshalb enge zeitliche Grenzen.

Ein oder zwei Notenstufen besser im Zeugnis in Mathe hätten sich nicht schlecht gemacht und wären außerdem gerecht gewesen. Von den positiven Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein Ludwigs, wenn er in Noten hätte lesen können, dass er wirklich gut ist, ganz zu schweigen.

Konsequenzen

Wenn Maria Montessori den Menschen und damit auch das Kind als mathematisches Wesen definiert, hat das eine ganze Reihe von Konsequenzen:

  • Allen voran ist die Mathematik jetzt kein Fach mehr, in dem die Kinder vor allem etwas über die Welt da draußen lernen; kein Fach, das sie auf einen Beruf vorbereitet, den sie nicht ergreifen werden, wenn sie nicht mit sich und ihrem Mathematischen Geist im Reinen sind. Hier wächst der Mensch.
  • Wer hat nicht schon einmal den Schluss gezogen, in der Mathematik würde sich zeigen, ob ein Kind mathematisch begabt sei oder nicht. Folgen wir der Argumentation Maria Montessoris, dann werden hier keine Fakten offenbar, sondern geschaffen und trainiert.
  • Wenn die Mathematik kein Ast neben andern Ästen ist, sondern Wurzel, dürfte die Mathematik-Pädagogik nichts unversucht lassen und könnte erst zufrieden sein, wenn sie einen Weg für jedes einzelne Kind gefunden hat. Vor allem aber dürfte sie auf keinen Fall den Kindern psychologische und neuro-biologische Hürden in den Weg stellen, zu werden, was sie sind.
  • Selbst wenn wir nach 9 bis 13 Jahren Matheunterricht in unserem ganzen Leben nie etwas anderes als den Dreisatz anwenden müssten  und selbst wenn wir jede Rechnung unseres ganzen Lebens mit dem Taschenrechner ausführen würden; dann wären 13 Jahre Mathe immer noch den Einsatz wert. Denn wenn wir Maria glauben, geht es in diesem „Fach“ nicht um Wissen als eine Form von Erinnerung, sondern um Können. Können können. Doch all diese Früchte wären wertlos, würde das Kind den Eindruck gewinnen, dass die Mathematik nur dazu da sei, es zu quälen.

Damit der Ausdruck Können können nicht ganz so abstrakt klingt, kurz eine Metapher:

Bevor Dirk Nowitzki sich dem Basketball zuwandte und zu einem der größten Spieler aller Zeiten reifte, spielte er Tennis und Handball und fuhr Skateboard. Und sein Trainer Holger Geschwindner ließ ihn auch rudern und drückte ihm ein Saxophon in die Hand.

In all diesen Disziplinen, die scheinbar nichts mit Basketball zu tun haben, trainierte Dirk Nowitzki Bereiche seines Gehirns, die ihm später helfen sollten, als einer der Hünen in einer ohnehin von großen Menschen dominierten Sportart von der Dreipunkte-Linie zu treffen wie kein anderer vor ihm. Dies galt bis dahin als unmöglich. Und sein einbeiniger Fade-Away kombiniert mit seiner Körpergröße gilt als einer der wenigen Würfe, gegen die es keine Verteidigung gibt. Denn er warf ihn sicherer als andere, die mit beiden Beinen auf dem Boden standen.

Beim Rudern, Skateboard-Fahren und in der Musik geht es auch um Gleichgewicht, um Rhythmus und das feine Zusammenspiel aller Extremitäten: Angefangen im Gehirn bis hinein in die gesamte Motorik.  All dies spielt natürlich auch im Basketball eine wichtige Rolle. Und je größer jemand ist, desto anfälliger ist das Gesamtsystem „Körper“ für Ungenauigkeiten. Wir dürfen annehmen, dass das, was Dirk auf dem Skate-Board lernte, ihm später helfen sollte, noch im einbeinigen Rückwärts-Fallen einen sicheren Wurf abzugeben.

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